Seit einer Weile löst Protofy konsequent klassische Hierarchien auf. Wie das konkret aussieht und welche Vorteile es hat.
„Was dich bei uns erwartet: flache Hierarchien“. Das steht in vielen Stellenanzeigen. Was das aber konkret für den Arbeitsalltag bedeutet, bleibt oft unklar. Wir haben uns dazu in den letzten Jahren bei Protofy viele Gedanken gemacht und einige Hierarchien erfolgreich aufgelöst. Unsere Mitarbeiter*innen bestätigen das: In der Befragung im Rahmen des Awards „Hamburgs beste Arbeitgeber 2022“ bezeichnen sie Protofy als wenig hierarchisch organisiert.
Aber was heißt das nun genau? Vorab: Ein Unternehmen ganz ohne Hierarchien gibt es in meinen Augen nicht. Ein gewisses Gefüge ist normal, die Frage ist nur, wie man damit umgeht. Wir haben beschlossen, dass wir möglichst wenig Hierarchien leben wollen. Denn Unternehmen, die klassisch hierarchisch organisiert sind, werden immer an Grenzen stoßen:
- weniger Wachstum – weil Entscheidungen im Bottleneck „feststecken“
- weniger Entwicklung – weil talentierte Mitarbeiter:innen klein gehalten werden
Das haben wir selbst erlebt. Auch wir haben als Start-up einen gewissen hierarchischen Werdegang. Unsere Leads waren immer unsere Heroes – in jedes Projekt musste eine*r von ihnen involviert sein. Doch das hat andere eingeschüchtert und Talente klein gehalten. Als uns das klar wurde, haben wir gegengesteuert. Das Buch „Reinventing Organizations“ von Frederic Laloux gab im Sommer 2021 den finalen Anstoß, unsere Strukturen neu zu denken.
Wer darf Entscheidungen treffen?
Es entstand der Wunsch, unsere Mitarbeiter*innen mehr in die Verantwortung zu nehmen und ihnen mehr Gestaltungsspielraum zu geben. Einer der wichtigsten Ansatzpunkte war dabei die Frage: Wer darf bei uns wichtige Entscheidungen treffen? Klassischerweise sind das in vielen Unternehmen die Chef*innen und Führungskräfte. So war das auch bei Protofy. Doch je größer eine Organisation wird, desto länger und komplizierter werden die Entscheidungswege. Das wollten wir aufbrechen. Die richtigen Personen sollen die richtigen Entscheidungen treffen können. Heute kann und darf jede:r Mitarbeiter*in von Protofy (große) Entscheidungen ohne das explizite Go der Geschäftsführung treffen. Ganz gleich, ob es um die Einführung einer neuen Software, um veränderte Arbeitsstrukturen oder sogar um die Anmietung neuer Büroräume geht. Wer möchte, soll sich in die Unternehmensentwicklung einbringen und sie aktiv mitgestalten können.
Unser neuer Weg der Entscheidungsfindung
Dafür haben wir einen Beratungsprozess definiert, der für alle verbindlich ist – auch für die Geschäftsführung. Denn ohne klare Regeln geht es nicht. Das Ganze sieht so aus:
- Motivation: Eine Person hat eine Idee. Dies muss nicht formal festgehalten sein, die Aspekte sollten jedoch klar durchdacht sein. Was sind die Vorteile? Was sind die Risiken? Was sind die Nachteile?
- Challenging mit Expert*innen: Die Person führt ein erstes Gespräch mit Expert:innen zu dem Thema. Wer kennt sich im Kontext der Entscheidung vielleicht schon aus? Es kann ein sehr informeller Austausch sein. Ein solches Gespräch bringt hervor, wer von der Entscheidung betroffen ist, wie die Betroffenen involviert werden können und an welche Aspekte bisher evtl. noch nicht gedacht wurde.
- Involvement der Betroffenen: Die Person wählt die passende Methode, alle Betroffenen zu involvieren. Hier entsteht ein Meeting oder Prozess, der für die Gruppe der Betroffenen sinnvoll ist.
- Entscheidung: Die Person trifft unter Einbezug aller Gesichtspunkte eine Entscheidung, bei der die u.g. Rahmenbedingungen eingehalten sind. Es kann sein, dass hier eine Entscheidung entsteht, die nicht voll Konsens ist. Das erlaubt der Prozess!
- Dokumentation und publik machen: Die Person dokumentiert die Entscheidung an entsprechender Stelle und kommuniziert sie im Unternehmen.
- Umsetzung
Unser Weg der Entscheidungsfindung ist weder hierarchisch noch konsensbasiert. Wir vertrauen darauf, dass jede*r einzelne das Beste für alle möchte und halten dazu an, wirtschaftlich zu denken. Wünsche dürfen dabei ignoriert werden und es gibt keine großen Kontrollmechanismen oder einen doppelten Boden. Das Risiko für Fehlentscheidungen ist dennoch gering. Denn Alleingänge sind quasi nicht möglich, weil immer die einbezogen werden müssen, die die Entscheidung betrifft.
Lediglich wenige einschränkende Regeln haben wir zusätzlich festgelegt:
- Nur die Geschäftsführung kann Verträge unterzeichnen oder kündigen
- Nur die Gesellschafter können den Geschäftszweck von Protofy ändern
- Wir halten uns an Gesetze und Datenschutzauflagen
- Wir vertrauen auf die Arbeitsergebnisse unserer Fachbereiche
Mehr Transparenz, bessere Entscheidungen, mehr Wachstum
Die Vorteile der neuen Mitgestaltungsmöglichkeiten des Teams liegen für uns klar auf der Hand:
- es herrscht grundsätzlich eine größere Transparenz, was Entscheidungen angeht
- es werden bessere Entscheidungen getroffen, weil mehr Perspektiven einbezogen werden
- so ist mehr Wachstum möglich
- es gibt mehr Raum für die Entfaltung der Mitarbeiter:innen
- die Mitarbeiter:innen sehen mehr Purpose in ihrer Arbeit
- die Motivation steigt und die Identifikation mit dem Unternehmen erhöht sich
Plötzlich kommen außerdem Themen auf den Tisch, die wir aktuell nicht auf der Agenda hatten. So wird etwa gerade rege über den Social Impact von Protofy diskutiert. Und wir überlegen, unsere Unternehmenssprache von Deutsch zu Englisch zu wechseln. Bislang war uns das immer zu kompliziert gewesen, alle Verträge und die gesamte Dokumentation zu ändern. „Machen wir nicht!“, entschieden wir einst im Elfenbeinturm der Geschäftsführung. Dann schrieb eine Kollegin einen internen Blogartikel. Sie würde gern mehr Englisch sprechen hieß es da – und als Reaktion kam aus dem Team, dass viele das genauso sehen und sich das ebenfalls wünschen. Plötzlich gab es authentisches Feedback aus dem Team, und das hat eine tolle Diskussion eröffnet. Die Challenge ist jetzt, das Thema weiter zu treiben. Darum muss sich jemand kümmern – und zwar die Initiatoren, nicht die Geschäftsführung. Denn sonst entsteht schnell wieder ein Bottleneck.
Bürokratie bremst aus
Mich rauszuhalten fällt mir leicht. Ich freue mich darüber, dass wir so schöne authentische Initiativen haben und Veränderungen anschieben können, ohne weiter ein Bottleneck zu füllen. Für Kontrollfreaks und alle, die sich und ihre Position über Macht definieren und rechtfertigen, ist dieser Weg aber sicher eine Herausforderung.
Um es unseren Mitarbeiter:innen leichter zu machen sich einzubringen, halten wir die Hemmschwelle bewusst niedrig und arbeiten so unbürokratisch wie möglich. Bei uns müssen keine Anträge ausgefüllt werden und es Bedarf auch keiner besonderen Freigaben in großen Budget-Meetings. Wer sich an den Beratungsprozess hält, kann loslegen.
Titel gibt es weiterhin
Eine Titelstruktur haben wir weiterhin. Gründer, Geschäftsführung, Senioren, Leads – diese Jobtitel wollen wir auch nicht abschaffen. Sie sind wichtig für den Karriereweg der Mitarbeiter:innen und für die Außenwirkung bei Kunden relevant. Auch in der Personalführung haben Hierarchien mitunter ihre Berechtigung. Dennoch versuchen wir auch da, klassische Strukturen aufzulösen. So unterscheiden wir fachliche und disziplinarische Führung. Die Personalführung muss nicht zwingend von den Team-Leads übernommen werden, denn das Thema liegt einfach nicht jedem. Unsere Vision sind selbstorganisierte Teams, die sich gegenseitig Feedback geben.
Dafür braucht es eine gute Feedbackkultur. In hierarchischen Strukturen wird Feedback ausschließlich von oben nach unten gegeben. Bei uns ist es inzwischen in alle Richtungen möglich. Unsere Mitarbeiter*innen wissen, dass niemand ihnen den Kopf abreißt, wenn sie Kritik üben. Im Gegenteil: Wir begrüßen das.
Denn genau das macht für uns flache Hierarchien aus: Dass alle sich einbringen dürfen. Davon kann jedes Unternehmen nur profitieren.